Der unerschrockene Aufklärer

Der unerschrockene Aufklärer

Wenn Menschen unter Druck geraten, wird Klarheit oft zur Verhandlungssache. Ich meine das im übertragenen Sinne: Wenn ihnen Nachteile drohen oder sie gar ernste Konsequenzen fürchten müssen, kippen viele Menschen um oder mildern ihre Botschaften mindestens ab. Wenn es bei Politikern beispielsweise mal wieder für eine öffentliche Äußerung Kritik hagelt und womöglich Amt oder Status auf dem Spiel stehen, können wir das oft beobachten. So geschehen etwa kürzlich in den USA, wo Verteidigungsminister Rex Tillerson recht unmissverständlich die Alleingänge von Donald Trump kritisierte und anschließend dementierte, dass er den Präsidenten überhaupt habe kritisieren wollen. Oder auch bei Alexander Gauland, der vorschlug, eine türkischstämmige deutsche Regierungspolitikerin in Anatolien zu „entsorgen“. Nicht irgendeine Politikerin, sondern ausgerechnet Aydan Özuğuz, die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung. Auch Gauland dementierte anschließend, dass er das so gemeint habe, wie es nur gemeint sein kann, wenn man der deutschen Sprache mächtig ist. Dabei drohte ihm – schlimm genug – schlimmstenfalls kaum mehr als ein juristischer Klaps auf die Finger für diese menschenverachtende Äußerung.

Und dann gibt es jene Menschen, die immer seltener zu werden scheinen: Sie lassen sich nicht einmal dann beirren, wenn Leib und Leben auf dem Spiel stehen, und werfen ihre gesamte Existenz für die Verteidigung der Freiheit in die Waagschale.

 

Um nichts weniger als sein weiteres Schicksal geht es für Ahmet Şık: Für ihn ist Klarheit nicht im übertragenen Sinne, sondern im juristischen Sinne des Wortes Verhandlungssache. Şık ist Redakteur bei der türkischen Zeitung Cumhuriyet, die derzeit unter Federführung von Recep Tayyip Erdoğan juristisch verfolgt wird. Der investigative Journalist steht in Istanbul vor Gericht, weil ihm u. a. vorgeworfen wird, Terrororganisationen zu unterstützen. Gemeint ist damit die Gülen-Bewegung, das erklärte Feindbild des türkischen Präsidenten. Die Anklage ist schon deshalb fragwürdig, weil ausgerechnet dieser Journalist 2011 schon einmal ein Jahr in Untersuchungshaft verbracht hat – weil er die Unterwanderung des Staates durch eben jene Gülen-Bewegung recherchiert hatte. Seine persönliche Geschichte allein bringt die derzeitige Situation in der Türkei in ihrer ganzen Dramatik auf den Punkt.

Nach sieben Monaten Untersuchungshaft durfte sich Ahmet Şık im Juli dieses Jahres vor Gericht verteidigen. Er bekam also Gelegenheit, seine regierungskritischen Äußerungen zu relativieren, argumentativ zurück zu rudern und vielleicht noch das Schlimmste für sich zu verhindern. Nach sieben Monaten Gefängnis, sieben Monaten Freiheitsentzug in einem System, dessen Präsident laut über die Wiedereinführung der Todesstrafe nachdenkt, hätten viele, wenn nicht die meisten, wohl genau das getan. Sie hätten die Gelegenheit genutzt, sich nach bestem Wissen und Gewissen zu verteidigen und notfalls zu tun, was nötig ist, auch wenn es schmerzt.

Ich muss gestehen: Ich weiß nicht, was ich getan hätte. Aber ich werde Ihnen sagen, was Ahmet Şık getan hat: Der Journalist weigerte sich nicht nur, auch nur einen Schritt von der Klarheit seiner vergangenen Aussagen abzuweichen. Er legte in seiner Rede vor Gericht sogar noch nach: „Ich verteidige mich hier nicht oder mache eine Aussage. Ich klage an.“

Und dann tat er etwas rhetorisch sehr Kluges: Er stellte sich in den Dienst der größeren Sache, nämlich der politischen Aufklärung, indem er seine Geschichte und seine Situation als pars pro toto für den Widerstand einsetzte. „Diese Operation, die sich gegen uns richtet, ist nichts anderes als die Jagd auf die Gedanken-, Meinungs- und Pressefreiheit.“ […] Das ist kein Statement zu meiner Verteidigung, weil ich das als eine Beleidigung meines Berufes betrachten würde. Journalismus ist kein Verbrechen. Aus diesem Grund sage ich nur, dass ich gestern ein Journalist war, dass ich heute ein Journalist bin und dass ich auch morgen ein Journalist sein werde. Dafür, das ist offensichtlich, muss ein Preis gezahlt werden. Aber glauben Sie nicht, dass uns das einschüchtert.“

Vom Angeklagten zum Ankläger, vom Verteidigungsplädoyer zur öffentlichen Demonstration, vom Einzelfall zur politischen Grundsatzdebatte: diese Wendung ist ein rhetorisches Meisterstück.

Ein Moment in dieser Rede hat mich allerdings noch mehr beeindruckt. Es ist eigentlich eine Randnotiz, ein scheinbar unbedeutendes Detail der Rede, doch es stellt die Tapferkeit des Redners noch stärker unter Beweis als jedes kluge Argument, jede tapfere Anklage, jedes mutige Wort. Während der Journalist gerade darüber spricht, wie der Präsident kritische Stimmen zum Schweigen zu bringen versucht, klingelt im Verhandlungssaal ein Mobiltelefon. Und Ahmet Şık, um dessen Schicksal es in diesem Moment geht, ignoriert das nicht etwa oder verbittet sich die Störung. Ahmet Şık macht einen Witz: „Wenn sie nach mir verlangen, sagen Sie ihnen, dass ich beschäftigt bin.“

Keine andere Momentaufnahme in dieser an starken Worten reichen Rede macht deutlicher, wie unbeirrbar dieser Mann in seiner Klarheit ruht. Humor im Angesicht der Verurteilung: Nichts könnte souveräner wirken. Das ist die Gewissheit eines Menschen, der seine Entscheidung getroffen und den größten Feind der Klarheit besiegt hat: die Angst.

Die Rede von Ahmet Şık ist in zweierlei Hinsicht eine Heldentat. Einmal, weil wir als Demokraten vor so viel Tapferkeit nach der Qual von sieben Monaten Untersuchungshaft und im Angesicht noch viel schlimmerer Strafen nur unseren Hut ziehen können. Wie banal sind dagegen die Motive, aus denen wir oft rhetorisch „umkippen“? Zum anderen, weil das Beispiel von Ahmet Şık zeigt, wie Redner eine Gelegenheit beim Schopfe packen und noch die widrigsten Redeumstände in eine Chance verkehren können, wenn sie Klarheit als Haltung praktizieren.

Wie es um die Demokratie, die Freiheit und die Menschenrechtssituation in der Türkei wirklich bestellt ist, kann ich – wie die meisten von uns – nur erahnen und nur bedingt kommentieren. Doch ich ziehe meinen Hut vor Ahmet Şık, dem Aufklärer – und vor Ahmet Şık, dem Rhetoriker. Wir können uns ein Beispiel an ihm nehmen: Klarheit ist, wenn wir es trotzdem sagen.

Den vollen Wortlaut der Rede von Ahmet Sik vor Gericht in Istanbul am in englischer Übersetzung können Sie hier nachlesen. 

 

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